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„Künstliche Intelligenz nimmt nicht deinen Job, sondern eine Person, die KI einsetzt. Das klingt weniger beängstigend, ist jedoch nur die halbe Wahrheit.“, warnt Ben Harmanus, Editorial & Audience Development bei HubSpot in einem LinkedIn-Post. Er widerspricht dem gängigen Tenor auf der Social-Media Platform, dass KI ein harmloses Tool ist, dass keine Jobs gefährdet. Seine Aussage spiegelt die Sorgen wider, dass KI durchaus als Ersatz für menschliche Arbeit gesehen werden kann.
„Die Sorge und teilweise auch Befürchtung, dass die KI den Menschen ersetzen könnte, wird seit langem öffentlich diskutiert und bekam 2022 mit ChatGPT einen neuen Boom.“
KI– Diskurse über KI-Textgeneratoren, TU Darmstadt
Zwischen Effizienz und Arbeitsplatzsicherheit
Die Einführung von KI in die Content-Industrie und verwandte Bereiche wie Suchmaschinenoptimierung (SEO) oder Lokalisierung ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits eröffnen sich Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Skalierung. Eine Studie von IW Consult im Auftrag von Google zeigt, dass Arbeitnehmer in Deutschland mit Hilfe von generativer KI durchschnittlich 100 Stunden pro Jahr einsparen könnten, „die für produktivere Tätigkeiten genutzt werden könnten“. Andererseits bestehen berechtigte Sorgen hinsichtlich der Arbeitsplatzsicherheit, der Qualität der Inhalte und der kulturellen Integrität.
Spannungen zeigen sich zum Beispiel in der SEO-Branche. Laut einem Artikel von IBM iX stellt die Transformation von Google zu einem „Antwort-Motor“, der KI-gesteuerte Übersichten direkt in den Suchergebnissen anzeigt, ein erhebliches Risiko für den Website-Traffic von Unternehmen dar. Die Möglichkeit, dass Nutzer die gewünschten Informationen bereits in den KI-Zusammenfassungen finden, könnte die Geschäftsmodelle vieler Webseitenbetreiber untergraben. Dies setzt die Branche unter Druck, ihre SEO-Strategien grundlegend anzupassen und neue Kompetenzen in den Bereichen KI-Optimierung, Inhaltserstellung und Datenanalyse aufzubauen.
Expertenmeinungen: Zwischen Apokalypse und Optimismus
Der Spannungsbogen zwischen den Chancen und Risiken von KI wird auch auf LinkedIn sichtbar, wo ich die Meinungen und Erfahrungen von Experten aus Content und SEO verfolgt habe. Während einige Fachleute die Apokalypse heraufbeschwören, betonen andere, dass es wichtig ist, konstruktiv mit den neuen Technologien umzugehen und Wege zu finden, wie Mensch und Maschine sinnvoll zusammenarbeiten können.
Dylan Tweney, LinkedIn Top Voice, Gründer und Chefredakteur bei Tweney Media, sieht in KI keinen Grund für Untergangsszenarien: „Bloggen ist nicht tot! 80 % der professionellen Content-Ersteller, die ich befragt habe, erstellen immer noch Blogs für ihre Unternehmen oder Kunden – weit mehr als jede andere Content-Art.“ Bloggen entwickle sich einfach weiter, so sein Fazit.
Jordan Smith, Senior Manager SEO bei Adidas, mahnt zur Besonnenheit: „Die Verbreitung dieser Untergangsstimmung bezüglich KI wird nicht geschätzt. Reißerischen Schlagzeilen und Beiträge schaden nur SEOs.“
Nick LeRoy, Freelance SEO-Berater, sieht in den Veränderungen auch Chancen: „Den Kopf in den Sand stecken, stoppt die Realität nicht, dass sich die Suche (und SEO) weiterentwickelt. Was werden Sie tun, um sich abzuheben, wenn der Jobmarkt und Marketingbudgets unter Druck geraten? Meiner Meinung nach wird die Kombination aus Überbeschäftigung und einem historisch niedrigen Markteintritt dazu führen, dass die Branche etwas ausdünnt. Aber wir werden gestärkt daraus hervorgehen und uns weiterentwickeln, wie wir es in den letzten 20 Jahren getan haben.“
Joseph Karim, Senior Product Marketing Manager bei PROFIT, hebt die Herausforderungen hervor, dass KI-gestützte Inhalte das Internet überschwemmen, und Publisher ihre Strategien überdenken müssen: „Die Zeiten, in denen oberflächliche Inhalte ausreichten, um Traffic auf Ihre Seite zu bringen, sind vorbei… Das wird besonders hart für Publisher, die darauf angewiesen waren, dass Google Traffic auf ihre Inhalte lenkt, damit sie dann Anzeigen und Affiliate-Links verkaufen können.“
Die Sorgen der Experten: Qualität und Authentizität auf dem Prüfstand
Neben den Einschätzungen der SEO-Experten warnen etablierte Institutionen der Lokalisierungs-Branche vor den Risiken, die mit der Einführung von KI einhergehen. So titelt die Berliner Zeitung am 11. März 2024: “Künstliche Intelligenz: Übersetzer sehen menschliche Sprache in Gefahr” und veröffentlicht einen offenen Brief der deutschsprachigen Verbände der Literaturübersetzer Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie ihre Unterstützer:innen. Diese mahnen, dass der Einsatz von KI im Bereich der Literaturübersetzung nicht nur die Qualität der Übersetzungen gefährde, sondern auch die kulturelle Integrität und die Rechte der Urheber. Sie betrachten „textgenerierende Künstliche Intelligenz als Technologie mit systemischem Risiko und halten eine starke Regulierung für unbedingt notwendig“ und “…wir bitten dringend um Hilfe.” Angesichts dieser Warnungen aus etablierten Verbänden wird deutlich, dass die Einführung von KI besonders in Sektoren mit hoher kultureller Relevanz auf erheblichen Widerstand stoßen kann.
Wirtschaftliche Herausforderungen: Preisdruck und Unsicherheiten
Laut der Managementberatungsfirma CSA Research befinden wir uns in einer „Post-Lokalisierungs-Ära“, die von erheblichen wirtschaftlichen Unsicherheiten geprägt ist. Der Haupttreiber dieser Entwicklung ist der Preisrückgang in der Branche. Durch den Einsatz automatisierter KI-Systeme können Übersetzungen und Lokalisierungen deutlich schneller und kostengünstiger erstellt werden. „Die Unfähigkeit der Marktexpansion, den Preisrückgang auszugleichen“, so CSA Research, „hat zu Verlangsamungen, Entlassungen und überarbeiteten Strategien geführt.“ Denn die Nachfrage nach traditionellen, menschlich erstellten Übersetzungen wächst nicht in einem Maße, das die sinkenden Preise kompensieren könnte. Hinzu kommen wirtschaftliche Unsicherheiten. „Die Angst vor einer Rezession im Jahr 2023 führt dazu, dass Unternehmen ihre Ausgaben überdenken und möglicherweise reduzieren“, erklärt CSA Research. Diese Entwicklungen belasten die gesamte Branche und zwingen Unternehmen zu Umstrukturierungen oder Stellenstreichungen.
Obwohl die Kosteneinsparungen durch KI zunächst als Vorteil erscheinen, überwiegen aktuell offenbar die negativen Auswirkungen auf Umsatz und Beschäftigung. Um diese Herausforderung zu meistern, müssen Anbieter von Übersetzungs- und Lokalisierungsdiensten ihre Strategien überdenken und neue Wege finden, um ihre Dienste auch bei sinkenden Preisen profitabel anzubieten.
Angst als Anstoß für Veränderungen
In allen Bereichen sind die Auswirkungen von KI-Textgeneratoren auf die Qualität und Authentizität von Inhalten sowie der wirtschaftliche Einfluss ein zentrales Thema. Die Warnungen der Experten, die teilweise sehr emotional vorgetragen werden, zeigen, dass die Content-Branche erhebliche Veränderungen erlebt. Die Suche nach Strategien zum Umgang mit diesen Herausforderungen ist in der Branche demnach noch in vollem Gange.
Angesichts der geäußerten Ängste und Sorgen bezüglich der Auswirkung von KI-Technologien, betont Dr. Maris Tschopp, Forscherin bei der scip AG, dass Angst eine natürliche Reaktion auf Veränderungen darstellt:
“Wenn wir KI-Technologien einführen, stoßen wir oft auf Widerstand, weil viele Angst vor Veränderungen haben und befürchten, dass ihre Jobs gefährdet sind. Es ist verständlich, dass man da schnell in eine Art Reaktanz verfällt und das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren.”
Dr. Marisa Tschopp
Tatsächlich reagieren Menschen klassischerweise mit Kampf, Flucht oder Einfrieren, wenn sie mit Unsicherheiten konfrontiert werden. Auch angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) erleben viele diese Gefühle. Doch wie Nick LeRoy betont, bringt es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Stattdessen sollten wir Ängste als Anstoß nutzen, um konstruktive Lösungen zu finden und unsere Zukunft aktiv mitzugestalten.
“Vertrauen ist der zentrale Coping-Mechanismus, um mit Angst, Unsicherheit und Risiko umzugehen; es hilft uns, auf unsicherem Boden zu wandeln, ohne verrückt zu werden. Tatsächlich sprechen wir in der Beratung immer weniger über Vertrauensmanagement, sondern über ein systemisches Vulnerability Management, das anerkennt, dass wir Menschen verletzlich sind – und zwar genauso wie Maschinen angreifbar sind – also Schwächen haben, die ausgenützt werden können.”
Dr. Marisa Tschopp
Handlungsempfehlungen von Experten
In einem Exklusiv-Interview gibt Dr. Marisa Tschopp konkrete Handlungsempfehlungen für Content-Experten. Als Expertin für die Beziehung zwischen Mensch und KI sowie Vertrauen in KI, betont sie: „Vertrauen ist der Schlüssel zum Erfolg von KI-Systemen. Führungskräfte und Unternehmen können dieses Vertrauen aktiv fördern in dem sie Transparenz schaffen, Workshops anbieten und einen offenen Dialog über die Ängste, Risiken und Chancen der KI-Technologien führen.“ Zudem weist sie auf die Notwendigkeit von organisationalem Lernen und gezielter Kompetenzentwicklung hin, um mit den Herausforderungen der KI-Integration umzugehen.
Aruna Pattam, LinkedIn Top Voice AI und Head of Generative AI-APAC bei Capgemini, empfiehlt konkrete Herangehensweisen. Sie rät zu einer dualen Strategie für KI-Karrieren: „Für technische Fachkräfte: Vertiefen Sie Ihr Wissen über KI-Algorithmen, Programmierung (Python, R) und Tools wie TensorFlow und PyTorch. Sammeln Sie Erfahrungen in Data Science und maschinellem Lernen. Nehmen Sie an realen Projekten, KI-Wettbewerben und Open-Source-Initiativen teil, um Ihre Expertise zu erweitern.“ Für nicht-technische Fachkräfte empfiehlt sie, „die Grundlagen von KI und Datenanalyse zu lernen“ und sich darauf zu konzentrieren „wie KI Geschäftsprobleme löst.“ Rollen wie KI-Produktmanager und Berater können von Kursen in Business Analytics und KI-Strategie profitieren.
In ähnlicher Weise betont Marisa Tschopp die Bedeutung einer ganzheitlichen Herangehensweise: “Es ist entscheidend, sowohl die technologische als auch die menschliche Seite dieser Veränderung zu berücksichtigen.“ Sie rät dazu, sich vor dem Einstieg in die neuen Technologien „gründlich über die eigenen Werte und Ziele klar zu werden“ un den Veränderungsprozess schrittweise und reflektiert anzugehen – statt sich „unüberlegt ins kalte Wasser zu stürzen“. Sie ergänzt: „Im Silicon Valley spricht man von move fast, break things. Gefällt mir nicht. Wie wäre: Mindful growth, enduring impact?”
Ein Ausblick auf die Zukunft: Mensch und Maschine im Einklang?
Die Zukunft der Arbeit mit KI wird durch enge Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine geprägt sein. Entscheidend ist, neue Lern- und Anpassungswege zu finden und eine Kultur des offenen Dialogs und der Transparenz zu fördern. Nur so können wir technologische Entwicklungen als Chance zur Weiterentwicklung und Bereicherung unserer eigenen Fähigkeiten begreifen. Letztendlich ist es die menschliche Kreativität und Innovationskraft, die den Unterschied macht – und die es aktiv zu gestalten gilt.
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